Sonntag, 12. Juni 2011

Thomas S. - Jäger des verlorenen Schatzes

Es war schwer, sehr schwer, von der Stelle zu kommen. Meine Stiefel mit Wasser vollgesogen und verklebt von der roten Erde dieser Breiten, schleppte ich mich Schritt für Schritt durch eine Wand aus Regen den schlammigen Pfad empor. Nur die dicke, dunkelgrüne Vegetation hinderte den steilen Hang zu meiner Rechten daran, unter den Sturzfluten in die Schlucht zu meiner Linken zu rutschen, und mich mit sich in den Tod zu reißen. Ich versuchte mich von dieser Gefahr abzulenken, indem ich meinen Blick angestrengt auf die Anhöhe vor mir gerichtet hielt, bis sich endlich die Umrisse der niedrigen und einfachen Häuser aus dem Schleier aus Regen abzuzeichnen begannen. Ich konnte mein Ziel sehen! Neue Energie strömte in meine schweren und von Insektenstichen aufgequollenen Beine, und mit neuer Entschlossenheit hielt ich auf das Größte unter den wenigen und schäbigen Gebäuden zu.
Ich wußte, ein Schatz wird erst durch die Bedeutung, die der Mensch ihm beimißt, zu einem solchen. Und vielleicht würde dieser grimmige Mann, in dessen Adern ein Blut floß, das sich vor Jahrhunderten aus dem spanischer Konquistadoren und indianischer Prinzessinnen gemischt haben mußte - zu einer Zeit, in der dieses Land noch fremder gewesen war - vielleicht würde dieser Mann den Dingen eine ganz andere Bedeutung beimessen. Dann, und nur dann, hätte ich eine Chance, von ihm die dringend benötigten Informationen zu bekommen! Informationen, die es mir endlich ermöglichen könnten, meine Finger um dasjenige Artefakt zu legen, das für mich mit jedem Tag meiner beschwerlichen Reise an Bedeutung gewonnen hatte, und das nun mein Denken beherrschte wie Wasser das Denken eines Verdurstenden.
Endlich konnte ich mit der Entschlossenheit eines Wahnsinnigen die verrottende Holztür der Spelunke aufstoßen. Abblätternde Farbe blieb an meinen feuchten Fingern kleben wie die Splitter einer sterbenden Blüte. Es war eines jener Wirtshäuser, wie es sie hier in jedem kleinen Dorf gab: Ein karger Raum, in dem der Gast außer fadem Brot, gegrilltem Fleisch und einem Pisco zum Hinunterspülen nichts zu erwarten hatten. Mit einigen ruckartigen Bewegungen schüttelte ich das Wasser von meinem Regenponcho. Der Mann, den ich suchte, beugte ich über den schmutzigen Tresen und fixierte mich mit einem Blick, undurchdringlicher noch als die Wand aus Regen vor der Tür, deren monotones Rauschen den schwülen Schankraum erfüllte. Ich ging auf ihn zu. Sicher, es wäre das Beste gewesen, ich hätte das Gespräch unverfänglich begonnen, und mich langsam, nach und nach, auf den interessanten Punkt hin vorgearbeitet. Doch ich hatte keine Zeit für ein Vorspiel - nicht heute, und nicht, wo der Einbruch der Dunkelheit schon so nah war. Mir blieb keine Wahl, ich mußte sofort zur Sache kommen. Und so sprach ich ihn in meinem schlechten Spanisch an. Durch die katalanische Eigenart, die Worte zu verkürzen, mussten sie diesem Mann aus dem Munde eines Gringos noch bizarrer erschienen sein:
"Entschuldigung, aber habe ich hier vielleicht eben die Speicherkarte meines Fotoapparats liegen gelassen?"
Ich hatte, und so bekam ich sie wieder! Schnell lief ich den Weg, den ich gekommen war, zurück zum Parkplatz. Ich war erleichtert, und der Reisebus mußte auch nicht zu lange auf mich warten!

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