Samstag, 19. Juli 2014

Ein Sommernachtsalbtraum

Du meine Güte, es kann ich trotz der späten Stunde nicht mehr länger an mich halten und muß mich zum Absturz von Flug MH17 über der Ostukraine ausbreiten. Nicht, daß ich irgend etwas darüber wüßte. Das Problem ist nur, daß auch sonst keiner viel mehr darüber weiß. Dennoch kommen allerorten die Kommentatoren zu dem Schluß, alle Indizien sprächen dafür, daß die Rebellen in der Ostukraine, unterstützt von Russland, den Abschuss der Passagiermaschine zu verantworten hätten. "Noch sind es Indizien, doch sie sind erdrückend: Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass prorussische Separatisten hinter dem Absturz von Flug MH17 stecken, dann muss Russland die volle Wucht der Sanktionen treffen - auch und gerade aus Europa.", schreibt es Herr Kornelius in der Süddeutschen, bei der Zeit lief's genauso: "Indizien deuten darauf hin: Von Russland unterstützte Separatisten haben das Passagierflugzeug in der Ukraine abgeschossen. Der Konflikt erreicht damit eine neue Stufe." Und ich bin schon zu müde, um all die anderen Äußerungen in dieselbe Richtung herauszusuchen. Das Problem ist nur, all das stimmt nicht. Man kann all die Indizien, von denen ich im Laufe des Tages gelesen habe, problemlos auch in die andere Richtung interpretieren, wenn man denn will - daß der Abschuss von der ukrainischen Armee zu verantworten ist. Niemand aber scheint dies zu wollen.
Hier also ein kleines Gedankenspiel. Ich will keinesfalls behaupten, es sei wirklich so gewesen wie im Folgenden dargelegt. Ich will nur sagen, daß des nach allen gegeben Indizien genauso gut auch so hätte gewesen sein können:

Ein wichtiger Punkt in der Schuldzuweisung an die Rebellen ist eine Mitteilung in russischen sozialen Netzen, in denen eine Rebellenkommandant den Abschuss eines ukrainischen Militärflugzeugs ungefähr zu der Zeit und in der Gegend vermeldet hat, in der Flug MH17 abgeschossen wurde. Dabei sprechen die Rebellen aber ausdrücklich vom Abschuss einer Antonow-26. Man muß nur bei der Wikipedia nachschlagen um zu sehen, daß eine Antonow-26, eine kleine Propellermaschine, niemals so hoch und so schnell fliegen würde wie die Boeing 777 des Fluges MH17. Sie ist zudem gerade mal halb so groß wie die Boeing, und deren Kurs in großer Höhe in Richtung russisches Territorium ist für eine ukrainische Militärmaschine auch nicht gerade naheliegend. Nehmen wir also mal an, daß die Rebellen nicht vom Abschuss einer An-26 geredet haben, weil sie eine Boeing 777 damit verwechselt haben, sondern weil sie auf eine Antonow-26 geschossen haben. Das haben sie zuvor ja auch schon getan, vor kurzem sogar erfolgreich. Nur dieses Mal haben sie die Maschine nicht abgeschossen.

Nehmen wir weiter an, daß die ukrainische Armee tatsächlich, wie von russischer Seite behauptet, viele Flugabwehrraketen in die Ostukraine verlegt hat. Das würde durchaus Sinn ergeben. Nicht, weil die Rebellen über eine Luftwaffe verfügen würden. Aber weil die Westukraine immer wieder auf die Gefahr einer russischen Invasion hinweist und Russland schon des Abschusses ukrainischer Flugzeuge beschuldigt hat. Die ukrainische Flugabwehr richtet sich gegen Russland. Nun wurde ein ukrainisches Flugzeug beschossen, und die ukrainische Luftabwehr hält nach möglichen russischen Unterstützen Ausschau. Und sie hält den zufällig gerade vorbei kommenden Flug MH17 für ein russisches Spionageflugzeug, das den fehlgeschlagenen Angriff auf die ukrainische Maschine koordiniert hat. Eine solche Verwechslung mag dilettantisch klingen. Aber vielleicht ist es auch nicht unwahrscheinlicher, daß eine dilettantische ukrainische Luftabwehr eine schnell und hoch fliegendes Flugzeug mit Kurs auf Russland für ein Spionageflugzeug hält, als daß eine dilettantische Rebellenflugabwehr ein schnell und hoch fliegendes, großes Flugzeug mit Kurs auf Russland für eine ukrainische Propellermaschine hält?
Nehmen wir also an, die ukrainische Armee schießt in einem katastrophalen Fehler die Boeing kurz nach dem Angriff auf die Antonow ab.
Augenzeugen sehen Raketen und ein getroffenes Flugzeug abstürzen, und die Rebellen bekommen das auch mit. Was sollen die wohl glauben? Sie selber haben keine Flugzeuge, sie selbst sind also ihrer Meinung nach die einzigen, die in der Gegend auf Flugzeuge schießen. Also müssen sie glauben, daß sie die Antonow doch noch erwischt haben. Daß sie Gegenseite beliebige Flugzeuge abschießen könnte, fällt ihnen nicht ein. Also verkünden sie über soziale Medien den Abschuss der Antonow, auf die sie geschossen haben, und machen sich auf dem Weg zur Absturzstelle um Wrack und Besatzung zu finden. Dort angekommen merken sie aber bald, daß keine Antonow-26 runtergekommen ist, sondern ein großes Verkehrsflugzeug. Und dann bekommen die Rebellen das große Sausen, denn sie denken, sie selbst hätten ein falsches Flugzeug abgeschossen. Denn sie glauben ja, sie seien die Einzigen, die in der Gegend auf Flugzeuge schießen. Also löschen sie die Meldungen eines Abschusses wieder und versuchen erst mal still zu halten. Bis sie dann erfahren, daß das Flugzeug in einer Höhe von gut 10 000 Metern abgeschossen wurde. Da sollte ihnen dann klar geworden sein, daß nicht sie den Abschuss zu verantworten haben. Bei ihnen sollte die Erleichterung enorm gewesen sein. Bei der ukrainischen Seite wird die Stimmung nicht so gut sein. Aber sie freuen sich, daß die Rebellen es durch ihr Verhalten so leicht gemacht haben, ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Gut, soweit ist das alles reine Spekulation. Aber als Spekulation ist sie auch nicht schlechter als die meisten anderen Spekulationen. Diese Variante erklärt das Auftauchen und Verschwinden von Einträgen in sozialen Netzwerken. Der Irrtum beim Abschuss ist auch nicht schwerer nachvollziehbar als in anderen Varianten. Und anstatt lange spekulative Theorien darüber zu entwerfen, ob die Rebellen überhaupt geeignete Waffen verfügbar haben könnten, um einen Fehler zu machen, liegt der Fehler hier bei der Seite, von der man weiß, daß sie viele solche Waffen hat - und einen solchen Fehler schon einmal gemacht haben. Es ist eine ökonomische Erklärung, diese ganze Sub-Diskussion fällt weg. Es ist auch egal, ob veröffentlichte Telefonate von Rebellen zum Abschuss echt sind oder nicht. Denn sie müssen ja zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen sein, daß sie selbst die Täter sind, selbst wenn sie damit gar nichts zu tun hatten.

Und deshalb meine ich, die Schuldzuweisungen an von Russland unterstützte Rebellen nur einen Tag nach dem Absturz hat nichts mit der Lage der Indizien zu tun. Sie liegt nur daran, daß man an den gegenteiligen Fall gar nicht erst denken möchte: Daß nämlich eine vom Westen unterstützte und in einen Krieg gegen Teile des eigenen Landes getriebene, völlig überforderte ukrainische Armee verheerende Fehler machen könnte.
Und wer immer sich als Schuldiger rausstellen sollte - den ekelhaften Geschmack der propagandistischen Vorverurteilung wird diese Angelegenheit nicht mehr los werden.


1 Kommentar:

  1. Der Kommentar spricht mir aus der Seele. Ob Ihre Version glaubwürdiger ist als die bisher verbreiteten, ist tatsächlich egal.
    Aufklärung wird es allerdings nur geben, falls tatsächlich die Separatisten als zweifelsfrei Schuldige an diesem Unglück identifiziert werden. Andernfalls sehe ich schwarz für eine tatsächliche öffentliche Aufklärung. Der westlichen Politiker und Medien haben sich mit schnellen und eindeutigen Vorverurteilung schon so festgelegt, dass sie ohne Gesichtsverlust gar nicht mehr aus dieser Sache heraus kämen.

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