Mittwoch, 12. August 2015

Jenseits der Lügen, diesseits der Oder

"Man kann bei Arendt lernen, dass demokratische Gesellschaften einer doppelten Gefahr ausgesetzt sind: Die eine ist die systematische Verwischung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge, die andere liegt in der Versuchung Augen und Ohren vor unbequemen Wahrheiten zu schließen. Beides trifft für den Konflikt um die Ukraine zu."
Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung,

Es wird ermüdend, das Ringen um die "Wahrheit", um die richtige Interpretation der Vorgänge in der Ukraine. Organisationen wie Bellingcat oder stopfake.org schütten einen förmlich zu mit Bergen an Informationen darüber, welches Video von welchem angeblichen Granatangriff nun echt oder manipuliert sei, welches Foto von welcher Rauchsäule nun wo aufgenommen wurde und immer so fort. Gibt es noch jemanden, der diesen ganzen Meldungen noch folgen kann? Dabei droht der wesentliche, übergeordnete Aspekt ganz verloren zu gehen: Die systematische Verwischung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge und das Verschließen vor unbequemen Wahrheiten.

Heute boten die 6vor9 beim Bildblog einen Verweis auf Interview mit einem Verantwortlichen eines Lokalsenders, der eine Sendung von Russia Today ausgestrahlt. In diesem Interview wird er mit folgender Behauptung konfrontiert:

Stopfake hat Russia Today schon in vielen Fällen Falschberichterstattung nachgewiesen.

Es behaupten ja immer alle, dass es dauernd Falschmeldungen gebe. Aber können Sie mir auch ein Beispiel nennen?

Der Sender hat behauptet, dass ukrainische Flüchtlinge in Scharen nach Russland strömen. Das war definitiv eine Falschmeldung.

Definitiv eine Falschmeldung? Dann gibt es die ukrainischen Flüchtlingsströme nach Russland gar nicht? Oder vielleicht doch? Sucht man bei Stopfake, dann findet man einen Bericht vom März 2014 [1]. Darin heißt es:
"Federal Migration Service of Russian Federation has denied reports of the Russian state media about mass number of refugees from Ukraine who want to obtain Russian citizenship.
[…]
'Since beginning of 2014 82 Ukrainian citizens have asked for refugee status from Federal Migration Service of Russian Federation. Figure of 143,000 people, which was mentioned in the media is the number of Ukrainian citizens who have entered the territory of Russia for the last two weeks, '- the report says."
Es sieht also nach einem Mißverständis aus: 143 000 Ukrainer sind nach Russland eingereist, russische Medien haben sie zu "Flüchtlingen" erklärt, die die russische Staatsbürgerschaft wollten - das ist verwirrend und unzutreffend.

Aber gibt es nun ukrainische Flüchtlingsströme oder nicht? Wenn man schon nicht weiß, wem man was glauben soll, dann könnte man sich ja mal an die Vereinten Nationen halten, d.h., an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Das gibt seit Juli 2014 in dichter Folge Statusberichte zur Lage von Flüchtlingen in und aus der Ukraine heraus, und diese Berichte sind ziemlich detailliert. Ich habe mal Flüchtlingszahlen herausgesucht und in ein Diagramm eingetragen, dann muß man sich nicht mehr durch alle Berichte wühlen:
Die Kurven geben die Anzahl der registrierten Flüchtlinge an, "interne Flüchtlinge" meint Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine, "externe Flüchtlinge" solche in anderen Ländern. Der Löwenanteil der externen Flüchtlinge entfällt auf Russland (letzter Stand: 756 600), mit großem Abstand folgt Weißrussland (letzter Stand: 81 600). "Registriert" sind Flüchtlinge, wenn sie sich irgendwo um einen offiziellen Status bemüht haben, d.h. offiziell um Asyl gesucht, eine neue Staatsbürgerschaft beantragt, etc.

Und damit ist die Frage eindeutig beantwortet: Ja, es gibt eine ukrainische Flüchtlingswelle. Und diese Welle ist von gewaltigen Ausmaßen: Bisher sind 2.3 Millionen Ukrainer, das sind gute 5% der gesamten ukrainischen Bevölkerung, aus ihrem Heimatort geflohen.
Und die Berichte des UNHCR bieten auch eine nähere Erklärung für die Verwirrung um die Zahl von Flüchtlingen bzw. nach Russland eingereisten Ukrainern im März 2014: Ukrainische Bürger können visumfrei nach Russland einreisen und sich dort bis zu 270 Tage legal aufhalten [2]. Somit hatten Ukrainer im März 2014 keine Eile, einen Asylantrag oder einen anderen Status in Russland zu beantragen. Und womöglich war auch die Hoffnung groß, schnell wieder nach hause zurückkehren zu können. Insofern ist es nicht überraschend, das zu einer so frühen Zeit die Zahl der "offiziellen" Flüchtlinge in Russland so viel niedriger ist als Zahl der "eingereisten Ukrainer", die ja doch Flüchtlinge sind, nur eben auf eigene Faust.

Und damit sind wir wieder beim grundlegenden Problem - dem Verwischen von Wahrheit und Lüge und dem ignorieren unbequemer Wahrheiten:
In einem aktuellen Interview berufen sich deutsche Journalisten auf veraltete Berichte, wonach russische Medienberichte Lüge wären. Sie erwecken so den Eindruck, es gäbe die ukrainischen Flüchtlinge in Russland gar nicht. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, sich ein von westlichen und russischen Medien unabhängiges und aktuelles Bild der Lage zu bilden [3]. Dabei hätte sich gezeigt, daß die Berichte der russischen Medien ungenau und missverständlich gewesen sein mögen, letztlich aber ein tatsächliches Phänomen geschrieben haben. So aber wird hier die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verwischt. In einer an sich ziemlich klaren Situation wird Unsicherheit darüber verbreitet, was stimmt und was nicht. Und an dieser Stelle sind es nicht Russland oder die russischen Medien, die Verwirrung säen. Deutsche Medien schaffen das ganz alleine.

Und was sonst noch bleibt ist die Verwunderung, wie eine so gewaltige Flüchtlingskatastrophe wie in der Ukraine, unmittelbar vor der Haustür der EU, öffentlich fast gar nicht wahrgenommen werden kann. Womöglich ist das Ausmaß der Katastrophe in der Ukraine so groß, daß die deutsche Öffentlichkeit, würde sie ihrer gewahr werden, aller offiziellen Schuldzuweisungen an Russland zum Trotz nicht länger dem harten Kurs der EU/NATO folgen würde?
Auf jeden Fall werden hier die Augen vor einer unbequemen Wahrheit verschlossen. Das war es allerdings nicht, was der Herr Fücks von den Grünen in seinem Eingangszitat meinte. Er meinte, wir würden bereits nicht mehr wahrhaben wollen, wie böse Russland und Putin doch sind. Auf die Idee, Hannah Arendt Lektionen einmal gegen sich selbst zu wenden, darauf käme der nie!
"This boy has lived in a bomb shelter for around a year. In total, there are
 around 20 children who live in this bomb shelters in Petrovskiy, near
 the coal mines in Donetsk."  Photo: UNHCR, Petr Shelomovskuy  

[1] Es gibt noch einige einzelne Berichte, die die Meldungen russischer Medien anzweifeln, alle stammen von vor den Berichten des UNHCR und sie beziehen sich auf wenig interessante Einzelfälle, etwa Bildmaterial von einem falsch angegebenen Grenzübergang oder Zweifel an der Integrität von Zeugen.

[2] Offiziell sieht sich die Ukraine im Krieg gegen eine russische Invasion und die EU unterstützt die Ukraine in diesem Kampf. Und doch können Ukrainer visumfrei in das Feindesland Russland einreisen, nicht aber zu ihren Freunden in die EU. Krieg führen war auch schon mal übersichtlicher...

[3] Die Angaben zu externen Flüchtlingen des UNHCR berufen sich auf offizielle Meldungen der jeweiligen Länder, d.h. auch auf die russische Regierung.

1 Kommentar:

  1. Sehr feinsinnig und differenziert ausgedrückt! Die Propagandamaschinerien laufen und am meisten wahrscheinlich durch gezieltes unterschlagen von Informationen.
    Bin durch den 'Underdog' hierhergeraten, Respekt und Glückwunsch! Bin quasi hängengeblieben... :O :-P

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