Dienstag, 22. Dezember 2015

Jahresrückblick (2): Erkenntnis des Jahres

Vor etwa zwei Jahren, um den Wechsel 2013/14 herum, da hatte die Freie Welt, also die, die an Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft interessiert ist, ein Problem. Viktor Janukowitsch wollte das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU nicht unterzeichnen, also musste der Mann weg. Nur war er dummerweise 2010 in von Wahlbeobachtern der OSZE als "vorbildlich demokratisch" bezeichneten, freien Wahlen zum Präsidenten gewählt worden. Und so hatten alle Janukowitsch als demokratisch legitimierten Präsidenten der Ukraine anerkannt. Da gratuliert der US-Präsident Obama Janukowitsch 2010 zu seinem Amt als Ausdruck des Willens des ukrainischen Volkes:
"This peaceful expression of the political will of Ukrainian voters is another positive step in strengthening democracy in Ukraine."
Und 2013 steht der amerikanische Außenpolitiker John McCain auf dem Maidan zwischen Demonstranten, die Janukowitsch aus dem Amt treiben wollen, und erklärt sich mit deren "gerechtem Anliegen" solidarisch*:
"We are here to support your just cause, the sovereign right of Ukraine to determine its own destiny freely and independently. And the destiny you seek lies in Europe."
Und 2010, da erklärte auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt Werner Hoher in einem ukrainischen Interview:
"Die Menschen in der Ukraine haben sich bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen in fairen, freien und demokratischen Wahlen für einen neuen Präsidenten entschieden – das begrüßen wir! […]
Wir freuen uns natürlich auf die Zusammenarbeit mit Präsident Viktor Janukowitsch und darauf, unsere bilaterale Zusammenarbeit auch in Zukunft für alle Seiten gewinnbringend weiterzuführen."
Und 2013, da geht sein Chef, Außenminister Westerwelle, bevor er seinen ukrainischen Amtskollegen treffen will, erst noch schnell zu den regierungsfeindlichen Demonstranten auf den Maidan, um ihnen seine Unterstützung zuzusichern.

Da ist also das Problem - sowas sieht einfach nicht so schön aus. Wäre man bösartig, man könnte fast unterstellen, den FreDeMa-Ländern läge nur solange was an demokratisch legitimierten Regierungen in der Welt, solange diese tun, was diese wollen. Anderenfalls werden sie einfach abgesägt. Und so ein Eindruck ist doch nicht so schön, den möchte man doch vermieden wissen.
Gut, auf die deutschen Medien ist Verlass wenn es um Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft geht, da hat niemand zu lange auf diesem Punkt herum geritten. Und besonders vorbildlich in FreDeMa-Amnesie war die Heinrich-Böll-Stiftung. 2010 hatte Joscha Schmierer (nein - ich mache nie Namenswitze!) in einem Beitrag für die Böll-Stiftung ziemlich zerknirscht eingestanden, daß Janukowitsch sein Amt in "freien und fairen Wahlen" gewonnen hat. Und 2014 schreiben andere Autoren für die Böll-Stiftung, daß es mit Janukowitschs Nachfolger Poroschenko "erstmals wirklich" einen demokratisch gewählten Präsidenten in der Ukraine geben würde. Ja, bei den Grünen kann man sein erstes Mal gleich zweimal haben! Eigentlich eine verlockende Idee, wenn ich da so an mein erstes… gut, nicht abschweifen. Auf jeden Fall wäre es trotzdem schön, eine Rechtfertigung zu haben, warum Janukowitsch plötzlich zum Abschuss freigegeben ist. Janukowitschs Konkurrentin Julia Timoschenko hat's locker aus der Hüfte vorgemacht:
"Janukowitsch hat seine Legitimität in dem Moment verloren, als er das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieb."
So einfach kann es gehen, da braucht's keine langen verfassungsrechtlichen Analysen! Deutsche Medien haben das Motiv lieber noch ein bisschen variiert, z.B.:
"Seine Legitimation ist unwiederbringlich beschädigt. Gewiss, Viktor Janukowitsch wurde vom Volk gewählt. Doch seit seinem Amtsantritt hat er die Verfassung auf sich zugeschnitten und diese Machtfülle schamlos zum eigenen Vorteil ausgenutzt – dafür wurde er nicht gewählt."
oder auch:
"Viele wenden ein, Janukowitsch sei demokratisch gewählt worden und könne nicht einfach aus dem Amt gejagt werden. Doch der korrupte Präsident hat seine Macht missbraucht und gegen das Volk gerichtet."
Da wäre jetzt wohl ein Zittern angebracht in der Türkei. Oder Ungarn. Oder Polen. Und wir lernen, wenn ein Staatschef seine Macht gegen das Volk richtet, seinen Wahlauftrag missachtet oder einen Vertrag gegen den mutmaßlichen Willen des Volkes nicht unterschreibt, dann ist Schluß mit der Legitimität.

Andererseits wiederum erklärte SPON im Oktober 2015 den Deutschen, daß TTIP auch dann demokratisch legitimiert ist, wenn hunderttausende Menschen dagegen protestieren, Millionen Unterschriften dagegen gesammelt wurden und weder Bürger noch das Parlament die Verhandlungsunterlagen einsehen dürfen. Denn das Europaparlament hat den Verhandlungen ja zugestimmt. Und damit haben wir eine wichtige Erkenntnis gewonnen:

Freihandel gegen den Willen des Volkes ablehnen - demokratische Legitimität futsch
Freihandel gegen den Willen des Volkes vorantreiben - demokratische Legitimität ok

Ja, das ist ein kleines bisschen unbefriedigend… Ich hätte es auch gerne mal gesehen, wie Vitali Klitschko und John McCain auf dem besetzten Alexanderplatz stehen und, von nichts anderem beseelt als dem Wunsch, dem Willen des Volkes zum Durchbruch zu verhelfen, den Demonstranten Mut machen beim Sturz des Regimes Merkel! Vielleicht ein andermal...


* Fun Fact: McCain verbal sich auch eine Einmischung Russlands in ukrainische Angelegenheiten:
"We ... want to make it clear to Russia and Vladimir Putin that interference in the affairs of Ukraine is not acceptable to the United States."

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